KLINGELTON

 

 

 

"Du willst wissen, wie es mir geht?", freut sich Lilly am Telefon. "Ich soll dir was erzählen, von hier?", hakt sie nach und fühlt sich augenblicklich überschwemmt von einer Unzahl an allerschönsten Geschichten, die ihr direkt vom Herzen in den Kopf steigen. Sie kämpft sich wie der unbesiegbare, russische UFC-Weltmeister, als Jugendlicher beim Training, kraulend um sein Leben, täglich in einem wilden Fluss mit starker Strömung, irgendwo in seiner steinigen Heimat Dagestan, durch den Überfluss an Eindrücken. Sie versucht zu ordnen, chronologisch zu reihen, das Beeindruckendste rauszuscalieren, irgendwo anzufangen und gibt auf.

 

"Weißt du was, da musst du einfach selbst herkommen."

 

Sie blättert weiter in den Magazinen, die, obwohl schon oft gekündigt, immer wieder im Postkasten liegen und wünscht sich, zwei rechte Hände zu besitzen. Oder drei, oder vier. "Ich schreib dir."

 

 

Eigentlich mag sie es nicht, den Focus ihrer Augen krampfhaft auf die winzigen Handytasten und dieses kleinen Display zu fokussieren, weil sie lieber in die Ferne guckt, aufs Meer, und auch gern wo rauf wandert, um die weite Aussicht zu genießen, von erhabenen, gern auch ein wenig gefährlichen Positionen, wo sonst niemand hinkommt. Ein Ausblick, eine Ansicht, ein Foto, das eben dann nicht jeder hat. "Wo bitte soll ich anfangen?".

 

 

Lillys erster Eindruck von Sylt, gleich nach der Anreise mit der Fähre auf verregnetem, stürmischem Meer, war erst mal erschreckend enttäuschend, denn die niedrigen Friesenhäuser sind gewöhnungsbedürftig, die Leere der wenigen Straßen außerhalb der Saison ebenso.

 

 

Doch immer, wenn sie an einer Erhöhung stand und aufs Meer blickte, war sie innerlich wieder versöhnt mit dem abenteuerlichen, vorantreibenden, shoppingsüchtigen Großstadt-Junkie in ihr, deshalb verschrieb sie sich jeden Tag viele Sonnenstunden am Sandstrand in direkter Wassernähe, um sich weiterhin wie ein glücklicher, wertschätzender Tourist zu fühlen und mindestens einen Aufstieg und Ausblick über die Nordsee, damit das Inselfeeling nicht abhanden kommen kann. 

 

 

Mit dem stillen, bewegungslosen Wattenmeer hatte sie es anfangs überhaupt nicht so, bis sie eine Stelle in Morsum entdeckte, die sehr asiatisch anmutend, einen fantastischen Blick von hinten auf den oberen Teil der Insel freigibt und den Sonnenuntergang, wenn in Westerland längst davon nichts mehr zu sehen war, noch mal eine Stunde schöner machte. Die atemberaubende Stille bot einen idealen akustischen Rahmen für wunderbare Konzerte verschiedenster Vogelstimmen. Jurassic-World für Anfänger!

 

 

Es gäbe soviel zu erzählen, aber Lilly hat keinen Bock auf Handy. Sie lässt es am Tisch liegen, schlüpft in die Schuhe, läuft die Treppe runter, plaudert mit ihrem Nachbarn, der einen kleinen Laden führt, immer gut gelaunt ist, geht zum Eisladen, weiter zur Promenade, freut sich über den Wind in Gesicht, Haare und Augen und über den Ausblick, den sie nur mit ein paar anderen Friesen teilt.