CITY-LUFT

 

 

 

Vom Zeitgefühl her, kam sie sich manchmal vor, wie ein Hundeleben in ihrem  richtigen Leben, das währenddessen in der Warteschleife hängt. Sie lebt hier und gestaltet und genießt ihren Tagesablauf, aber eigentlich fühlt sie sich ganz anders -als stehe ihr richtiges Leben auf Standby. Der erste Ausflug in eine größere Stadt findet irgendwann im Herbst statt. Sie ist ein wenig nervös, da sie ihren Sohn kaum halten können wird, doch noch sehr unsicher mit Zugeinsteigen und Rolltreppen, den vielen Menschen und -Gott bewahre- großen, freien Plätzen ist.

 

 

Der freie Himmel über ihr, die lange Diagonale, ohne Möglichkeit, sich wo festzuhalten, wenn sie den Gleichgewichtssinn verliert, oder sie ein Windstoß zum Wanken bringt. Die Vorstellung von jemand aufgefangen werden zu müssen - also berührt zu werden - treibt ihr die Schweißperlen auf die Stirn. Ihre Hände schützt sie mit schwarzen Lederhandschuhen, auch wenn es erst September ist.

 

 

Auf freien Plätzen oder beim Überqueren großer Straßen hat immer noch ein schwummriges Gefühl im Bauch und spürt große Verlorenheit in soviel Freiheit nach dieser schrecklich langen Zeit in einem kleinen Raum, in der horizontale unbeweglich liegend am Rücken. Dies alles muss ihr Sohn ja nicht wissen. Von Außen sieht sie ganz normal aus, wie sie in den Fensterfronten der Geschäfte beobachtet.

 

 

Mit der Schwerkraft hat sie es auch noch nicht so. Große Sprünge sind noch nicht drinnen, was aber mit täglichen Fitnesstraining besser und besser wird. Es gab Tage, da musste sie ihr Vater von hinten am Gesäß in den Zugeinstieg hochdrücken, weil sie selbst noch nicht die Kraft hatte, ihre abgemagerten 50 Kilo Körpergewicht drei Treppen rauf in den Waggon zu katapultieren.

 

 

Es lief soweit ganz gut und ihr Kind war begeistert von so viel Auswahl an Spielzeug und Fashion. Er wollte ins Kino und sie nutzte die 90 Minuten, um sich mit Mike zu treffen. "Wo? Mövenpick? Ok, das finde ich." und macht sich alleine auf den Weg ans Ende der breiten Einkaufsstraße, muss eine Rolltreppe rauf, schafft dies und was noch schlimmer ist, wieder runter, aber auch dies gelingt ohne Wanken.

 

 

Sie steht direkt vor einem großen Platz, wo sie auch noch auf ein Filmteam trifft. Ihr Gesicht erhellt sich, die Augen strahlen, neugierig wäre, doch ihr Körper reagiert nicht mehr auf diese Impulse, der hat etwas anderes vor. "Wie genial, die Erinnerungen wieder raus zu kramen. Journalistin war mal, ist nicht mehr. Beruhige dich, da musst du nicht mehr hin.", atmet sie durch, konzentriert sich einfach darauf, dass sie ja wen treffen will hier und nicht mehr schnell auf der Jagd nach möglichst spektakulären News, Skandalen oder Stars sein braucht, Leute interviewen soll, über die sie zu viel weiß und die sie aus tiefstem Grunde anwidern, jedem Event, Premiere oder Vernissage entgegenlaufen, überall dabei sein, immer lächeln, jeden Blödsinn mitmachen muss.

 

Sie besinnt sich, ihr Herz will etwas anderes. Lilly guckt auf die Uhr, dreht sich um, da steht er.