NORDWIND

 

 

 

"Bahhhhh! Hiiilfee! Komm zu mir, ich halt dich fest!" ruft Lilly ihrem neunjährigen Sohn zu, als dieser eine Wind-Boe abbekommt, die ihm fast die Beine vom Boden wegreißt, obwohl sie selbst so kräftigen Seitenwind hat, dass es die Oberschenkel und Knie ruckartig nach links drückt und sie mit den Füßen nachsetzen muss, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. "Wer rechnet denn mit so etwas?" lacht sie, während der Wind die Schallwellen wieder in ihre Mundhöhle zurück drückt.

 

 

Sie waren zusammen, wie viele andere auch, auf der breiten Einkaufsstraße zu dem Abschnitt vorgedrungen, wo der Wind so stark aus der Querstraße um die Ecke pfeift, dass es nicht nur die kleinen Hündchen ins Wackeln bringt. Sylter finden diese Stelle immer sehr amüsant und beobachten mit ihren Erfahrungswerten die Touristen und Gegenstände, die vom Wind durcheinandergewirbelt werden, während sie sich gelassen zurücklehnen und durch die Kraft des Windes, wie gemütlich liegend, den Moment genießen, wo die Natur uns zeigt, was für kleine Lumpchen wir Menschen, mit unseren sechzig Kilos sind.

 

Längst haben sie jede kleinste Stelle, an der die beißende Nordsee-Luft direkt an die Haut gelangen könnte, mit Handschuhen, Kapuzen über den Mützen, mehrmals um den Hals und Gesicht gewickelten Schals vermummt, lugen durch Sehschlitze mit ihren hellen Friesenaugen auf die Ahnungslosen.

 

 

Lilly testet die Rückenlage, schwebt über die Straße dahin und fängt an, die grünen Riesen vor dem Bahnhof zu verstehen. So viel Spaß hatten die beiden schon länger nicht, denn gerade noch vor ein paar Monaten konnte Lilly weder stehen, noch gehen oder sitzen, nicht greifen oder trinken, nicht selber essen, nicht schlucken, nicht selber duschen, auch nicht den Kopf anheben oder die Augenlider selbst schließen, nicht sprechen, nicht selber zur Toilette, nichts fühlen, schließlich nicht mal mehr selber atmen.

 

 

Irgendwie haben es moderne Medizin und ein paar hartnäckige Ärzte mit all ihrer Forschung, Technik und Hilfsmitteln, sowie zu allem entschlossenes Pflegepersonal geschafft, Lilly, bereits gehunfähig, nachdem sie mit einem Virus befallen, der innerhalb von zwei Wochen zur Gesamtkörper-Lähmung inklusive Atemlähmung führte, ins Krankenhaus geliefert wurde, zu retten.

 

 

"Es wird vier bis sechs Wochen dauern, inklusive Intensiv-Station, dann sind sie zu 80 bis 100 Prozent wieder normal. Dann Reha." hört sie heute noch den Primar, während er in seinem weißen Kittel, der seiner exotischen Haut, strahlenden Zähnen und feurigen Augen noch mehr Wirkung verlieh, zur Tür raus huschte.

 

 

"Ok." dachte sich Lilly damals, zum Glück ohne zu wissen, was auf sie zukommt, einzig mit den Sorgen bei den Kindern, dem bereits organisierten Ferienlager, der Miete für ihre zentral gelegene Wohnung mit einliegender Praxis, wo sie nun vier, fünf Monate auszulegen hatte, ohne zu arbeiten.

 

 

Eine Schwester kommt ins Zimmer, fixiert ein Bändchen am Handgelenk: "So! Weiß heißt Selbstzahler."