Außer dem selbst angebauten Urwald rund um die Kupferkanne ist da nicht viel zu finden - vor allem nicht am Strand, wo es im
Sommer den paradiesischen Verhältnissen gerecht wäre, hin und wieder sich vor der heißen Sonne am wolkenlosen Himmel im kühlen Schatten einer hübsche Palme verkriechen zu können und eine
Kokosnuss für seine Eva zu pflücken.
Es haben Adam und Eva mit ihrem Apfelbaum den Weltenbaum Odins ersetzt. Von dem hört man nichts mehr. Wir beten keine Bäume
mehr an, sondern das Abbild von Vater, Mutter, Kind und dem heiligen Geist und Gott, der als weißhaariger, weiser Mann im besten Alter dargestellt wird und besonders mutige, gebildete oder
gönnerhafte Ikonen, die selig oder heilig gesprochen werden - also Abbilder der Menschheit selbst. "Manchmal könnte man schon glauben, Morgan Freeman ist Gott, so oft, wie ihn der schon
gespielt hat.", stellt Lilly fest.
"Habt ihr im Religionsunterricht schon mal was vom Weltenbaum gehört, oder ist das 25seitige Dossier über den Islam, der
einzige Ausflug in andere Glaubensrichtungen?". Keine Antwort. Dann doch: "Wir haben jetzt gar keinen Religionsunterricht mehr, dann muss ich mich auch nicht mehr zwischen Religion und Ethik
entscheiden.", ruft das 15 Jahre lang katholisch oder ethisch gelebte und geprägte Seelchen.
"Ab 14 Jahren Religionsfreiheit - wie verrückt ist das? Jetzt, wo du schon eine Kindheit hinter dir hast.". Christlich sein
ist wie eine durchgeimpfte Bevölkerung. Gewisse seelische Krankheiten haben keine Chance mehr. Das wirst du merken, wenn du Urlaub machst in anderen Kulturen. Mancherorts geht es etwas rauer
zu. Da werden tatsächlich die Leute noch am Baum aufgehängt, wie in deinem Lieblingsfilm ´Fluch der Karibik´. Da streifen sicher noch richtige Piraten und Räuber durch den Urwald."
Lilly erinnert sich an Predator, der sich unsichtbar im Grün des Dschungels versteckt. Da trifft er dann Bambi, wie es durch
den brennenden Wald läuft, die Schlange, die im Dschungelbuch vom Ast runterbaumelt, Schneewittchen, dass sich bei den 7 Zwergen versteckt, irgendwo steht Aschenputtels Baum, der sie mit
schönen Kleidern und Schuhen versorgt.
Sie scrollt auf der blauweißen Gesichtsbuch-Seite zufällig über einen Bericht zu Pando, einer wurzelverschwisterten
Baum-Welt, die sie an eine Szene in Avatar erinnert. Die Wurzeln einer bestimmten Baumart besteht hier seit etwa 80 000 Jahren, während die Bäume selbst jedoch 100 bis 130 Jahre alt
werden.
Der dickste Baum der Welt ist angeblich in Mexiko mit 14 Metern
Stammdurchmesser zu finden, der älteste - eine Fichte - in Schweden mit 9550 Jahren, der höchste ist ein Küstenmammutbaum in Kalifornien mit 115,55 Metern. Die älteste Eiche in Deutschland
ist 31 Meter hoch, ihr Alter wird auf 850 Jahre geschätzt. Der Regen prasselt an die Balkontüren. Lilly steht auf und sieht in die dunkle Umgebung über die Dächer der Häuser bis zum grauen
Himmel über der Nordsee. "Ganz schön windig - guck mal, am Baum siehst du es."